Tote in Berikon: Ist der Aargau wirklich ein Gewalt-Hotspot?

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Mutschellen-Reusstal-Kelleramt,

In Berikon AG tötet mutmasslich eine 14-Jährige ein anderes Mädchen (15). Kurz darauf ertönen erste Stimmen: «Immer im Aargau.» Tatsächlich ein Gewalt-Hotspot?

Berikon
Die Kapo Aargau in Berikon im Einsatz. Die Tat schockiert – und wirft bei vielen Fragen auf. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Nach dem Tötungsdelikt von Berikon AG spekulieren viele über die Hintergründe.
  • Ein Kommentar, der häufig fällt: Solche Dinge würden «immer» im Aargau passieren.
  • Der Kanton sticht gar nicht als Crime-Hotspot heraus. Vieles hat mit Klischees zu tun.

Der Fall schockiert die Schweiz: Eine erst 14-Jährige hat mutmasslich ihr Gspänli (†15) in Berikon AG getötet.

Dass Teenagerinnen Tötungsdelikte begehen, ist eine Seltenheit. Die Aufmerksamkeit, die der Fall erhält, ist darum gross.

Schon kurz nachdem die Polizei darüber informiert, wird in den sozialen Medien fleissig spekuliert.

Viele versuchen, die Tat irgendwie einzuordnen, zu erklären. Eine Mutmassung, die dort immer wieder angestellt wird: der Tatort als Grund.

«Immer im Aargau»

Er «schwöre, es ist immer Aargau», meint ein User auf Tiktok. Ein anderer sieht es ähnlich. «Nur Aargau», meint er trocken.

Tatsächlich verfolgt den einwohnerstarken Kanton zwischen Zürich und Bern nicht das feinste Image.

Die Popkultur spielt seit Jahren mit den Klischees: Noch in den Nullerjahren erfand das Comedy-Duo Divertimento etwa den Möchtegern-Rapper JK aus «Spreitebach, Mann».

2010 klagte die «Aargauer Zeitung», Aargauer seien beliebte Opfer in den Witzen der Schweizer Comedy-Szene.

Und im Netz schaffen es diverse Aargauer Gemeinden auf die Liste der «hässlichsten Käffer» der Schweiz.

Kurz: Kriminell und sozial schwach soll der Aargau sein.

Rupperswil, Kindermörder Ferrari und grausamer Höhlentod

Dem Ruf nicht helfen dürfte es, dass sich im Aargau tatsächlich einige der grausamsten Deutschschweizer Kriminalfälle abgespielt haben.

In den 1980er-Jahren trieb beispielsweise der fünffache Kindermörder Werner Ferrari dort sein Unwesen. Zwei Kinder tötete er im Aargau.

2015 drang Thomas N. in Rupperswil AG in ein Haus ein und ermordete eine ganze Familie. 2019 schüttete ein junger Mann seinen Kollegen in einer Höhle am Bruggerberg AG ein und liess ihn sterben.

Und erst letzten Juni haben drei junge Männer – zwei davon 16-jährig – mutmasslich einen 26-Jährigen in Wohlen AG erstochen.

Alles nur Klischees?

Und trotzdem: In der Statistik sticht der Kanton Aargau nicht als Kriminalitäts-Hotspot heraus.

«Er weist sogar eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung auf. Das gilt für Straftaten insgesamt wie für Gewaltstraftaten», erklärt Kriminologe Dirk Baier bei Nau.ch.

Die Kantone Basel-Stadt, Genf oder Zürich seien beispielsweise deutlich stärker belastet.

Es gibt jedoch ein Aber.

Zahlen sprechen für Aargau – überbewerten sollte man sie aber nicht

Baier sagt nämlich: «Aus meiner Sicht sind solche Kantonsrankings wenig aussagekräftig, weil die 26 Kantone sehr unterschiedlich sind.»

So gebe es etwa grosse Unterschiede bei der Grenznähe, der Bevölkerungszusammensetzung oder dem Grad der Verstädterung.

«Diese und viele weitere Aspekte stehen mit dem Kriminalitätsaufkommen in Verbindung.»

Wo lebst du?

Ein Beispiel: Die Kantone mit höherer Kriminalitätsbelastung sind städtisch geprägte Kantone. «Das hat beispielsweise damit zu tun, dass sie mehr Gelegenheiten zum Begehen von Straftaten bieten.»

Auch Armut und Ungleichheit sei dort verbreiteter – «ein Nährboden für Kriminalität».

Aargau
Die Zahl der totalen Straftaten nach Kanton im Jahr 2024. - Bundesamt für Statistik BFS

Und: In städtischen Gebieten wird laut Baier eine Tat eher angezeigt, etwa, weil man die Tatperson seltener persönlich kennt.

«Eine höhere Kriminalität in städtischen Gebieten muss also gar nichts Schlimmes bedeuten. Man zeigt hier nur eher an», fasst Baier zusammen.

Für den Aargau bedeutet das im Umkehrschluss, dass sein vergleichsweise gutes Kriminalitätsranking nicht überbewertet werden sollte.

Schulleitung in Berikon klagte schon vor Jahren über Gewalt

Auch im Fall von Berikon könnte der Tatort eben doch einen Einfluss haben.

Denn: Persönlichkeitsmerkmale, die Gewalt begünstigen – etwa Impulsivität – sind «immer vom sozialen Umfeld geprägt», erklärt Baier.

Dirk Baier
Laut Kriminologe Dirk Baier spielt das Umfeld der Täter in solchen Fälle eine wichtige Rolle. - ZHAW

«Die Familie, die Schule und auch die Nachbarschaft tragen dazu bei, welche Einstellungen ein Mensch hat. Darunter, ob er einen positiven Bezug zu Gewalt erlernt hat.»

Tatsächlich gab es an der Schule, die das Opfer und die Täterin besuchten, in der Vergangenheit schon Gewaltvorfälle.

2023 klagte die Schulleitung laut der «Aargauer Zeitung» über «Drohungen, Diebstähle und körperliche Gewalt».

«Stereotype, die sich nicht auf Fakten stützen»

Trotzdem gibt Baier zu bedenken, dass die «immer im Aargau»-Kommentare auch einiges mit Klischees zu tun haben.

«Es ist sicher so, dass es gegenüber bestimmten Regionen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen Stereotype gibt, die sich nicht auf Fakten stützen.»

Hast du Vorurteile gegenüber den Bewohnern anderer Kantone?

Die Menschen würden trotzdem gerne darauf zurückgreifen, «um die komplexe Welt zu vereinfachen». Es gehe auch darum, den eigenen Kanton aufzuwerten.

Er rät jedoch, die eigenen Vorurteile zu reflektieren – sonst bringe man sich vielleicht um positive Erlebnisse.

«Wer meint, der Aargau wäre gefährlicher als andere Kantone, verzichtet möglicherweise auf Ausflüge in diesen Kanton. Und Besuche im Aargau, soviel kann ich als Aargauer sagen, lohnen sich.»

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